In der frühen Phase der Besiedlung Islands gab es keine Städte oder dörflichen Gemeinschaften. Aufgrund der klimatischen Bedingungen, die nur spärlichen Ackerbau zuließen, lebten die Sippen auf einzelnen Gehöften, angeführt von ihrem Häuptling, mit Kind und Kegel, Knechten und Mägden als Freie und Sklaven zusammen. Durch die Skalden, die fahrenden Sänger, wurden ihnen neben den Lobpreisungen und Ruhmestaten des Sippenältesten auch Lieder und Sagas über die Götter und Helden kundgetan. Der Begriff “Skalde” (pl. Skalden) kommt aus dem Altnordischen und bedeutet “Dichter”. Es gibt jedoch verschiedene andere Deutungen des Wortes. Eine Theorie verbindet das Wort mit der Wurzel von „sagen“ und hat es mit „schelten“ in Verbindung gebracht (altsächsisch skeldári = „Schelter“ bzw. mittelhochdeutsch schelte = „Spott- und Strafgedicht”. Andere vermuten Parallelen zu dem Wort „uat“ = innerlich erregt sein, oder zum lateinischen Begriff „scatere“ = hervor sprudeln, überquellen, welches die unwahrscheinlichste Variante sein dürfte, da der Kontakt zum Kulturkreis des Mittelmeerraums in früherer Zeit gering war.
Die meisten Skalden waren Männer, aber es gab auch weibliche Skalden (skáldkonur), z. B. Jórunn skáldmær und Steinunn Refsdóttir. Den frühen Skalden wurde göttliche Inspiration nachgesagt. So verwundert es nicht, dass die berühmten Verse des Völuspá einer Frau in den Mund gelegt werden. Diese Geschichtsschau umfaßt 63 Strophen im Stabreim und beginnt mit der Schöpfung, auf die schon “bald” der Tod des lichten Gottes Balder folgt, der durch den Pfeil seines Bruders und den Verrat des zwielichtigen Loki, des Gottes der Unterwelt, sein Leben verliert.
Snorri Sturluson, geboren 1179 in Hvammur í Dölum, Island; ermordet am 23. September 1241 in Reykholt durch ein vom norwegischen König beauftragtes Attentat, ist der bedeutendste Sammler der alten bis dahin mündlich überlieferten Sagas und bekannteste Skalde. Auf ihn geht die Prosa-Edda oder Snorra-Edda zurück, die auch jüngere Edda genannt wird. Es gibt noch eine “ältere”, besser gesagt “Lieder-Edda”. Einige Teile stammen aus dem 10. Jh., aber sie wurden auch in späteren Jahrhunderten bearbeitet, so das man nicht strikt eine klare Datierung durchführen kann. Die Texte, die Snorri verwendet, stammen sicher von mehreren Autoren. Ihr Herkunftsort und ihre Zeit bleiben im Verborgenen. Wohl sind die Texte von christlichen Gedanken beeinflußt, da sie vom Ende einer statischen Götterwelt und dem Streit unter den Göttern sprechen, der die Welt zusammenbrechen läßt. So heißt es in der 36. Strophe der Völuspá in der Übertragung aus dem Isländischen von Karl Simrock:
“Ich sah Baldur, dem blühenden Opfer,
Odins Sohne, Unheil drohn.
Gewachsen war über die Wiesen hoch
Der zarte, zierliche Zweig der Mistel.Von der Mistel kam, so dauchte mich,
Häßlicher Harm, da Höldur schoß.
(Baldurs Bruder war kaum geboren,
Als einnächtig Odins Erbe zum Kampf ging.Die Hände nicht wusch er, das Haar nicht kämmt’ er,
Eh er zum Bühle trug Baldurs Töter).
Doch Frigg beklagte in Fensal dort
Walhall Verlust: wißt ihr, was das bedeutet?”
Ein eigenartiges Deutsch, nicht wahr? Man muß sich erst einlesen.
So wird der Beginn des Götterdämmerung beschrieben. Baldur oder auch Baldr war der lichte Gott, der kein Unrecht und Leid begangen hat. Er galt als unverwundbar, weil alle Dinge der Natur einen Eid geschworen hatten, ihn nicht zu verletzen, bis auf die Mistel. Der argwöhnische Gott Loki gibt dem blinden Hödur (Hödr) einen Bogen samt Pfeilen aus Mistelholz, durch die Baldur den Tod findet.
In Vers 42 lesen wir:
“Einen Saal seh ich, der Sonne fern
In Nastrand, die Türen sind nordwärts gekehrt.
Gifttropfen fallen durch die Fenster nieder;
Mit Schlangenrücken ist der Saal gedeckt…”“Viel weiß der Weise, sieht weit voraus
Der Welt Untergang, der Asen Fall.Brüder befehden sich und fällen einander,
Geschwisterte sieht man die Sippe brechen.
Der Grund erdröhnt, üble Disen fliegen,
Der eine schohnt den anderen nicht mehr.Unerhörtes ereignet sich, großer Ehbruch.
Beilalter, Schwertalter, wo Schilde krachen,
Windzeit, Wolfzeit, eh die Welt zerstürtzt…”
Dem Dichter fehlen die Worte. Er spricht keine klaren Sätze mehr. Es fallen nur noch Schlagworte. Nur wer im Norden gelebt hat, kann sich dazu die Dunkelheit vorstellen und welche Ängste diese Prophezeiungen ausgelöst haben mögen. Das Licht Baldur ist weg. Die Weltesche Yggdrasil, die den germanischen Kosmos zusammenhält, erzittert… Wie es weitergeht, erfahrt ihr im 2. Teil… vielleicht in der nächsten Ausgabe.
Noch ein paar Worte zu Snorri Sturluson: Dieser hatte eine interessante Familiengeschichte für einen mittelalterlichen Menschen. 1199 heiratete er in erster Ehe Herdis Bersesdatter (gestorben 1233). 1206 trennten sie sich, und er zog nach Reykholt, wo er den Rest seines Lebens seinen Wohnsitz hatte. In zweiter Ehe heiratete er 1224 Hallveig Ormsdatter (gestorben 1241). Es ist keine Rede von Ehebruch oder Verstoßen des anderen Partners. Klingt alles recht modern. Das kann man sich sicher nur für Skandinavien mit seinen selbstbewußten Frauen vorstellen. Durch ihren Status als Herrscherin über Haus und Hof, als Vollverantwortliche für die ertragreiche Bewirtschaftung des Hofes hatte sich ihre Macht auf das Zentrum der Familie ausgeweitet. Durch die lange Abwesenheit der Männer, sei es durch Handel, Krieg, Wikingzüge im fernen Europa, Handelsgeschäfte oder (wie Snorri) durch politische Verhandlungen in Norwegen, waren die Frauen zur höchsten Instanz der häuslichen Autorität avanciert und erlangten auch völlige Gleichberechtigung im Erbrecht. Zählte der Mann irgendwann als Krieger zum alten Eisen, wuchs der Einfluß der Frau in Wirtschaft und Gesellschaft, je älter sie wurde. Die Frauen hielten die Fäden in der Sippe zusammen. In keiner anderen indo-germanischen Sprache werden Familienverhältnisse so klar definiert wie im Altnordischen. Es gibt nicht einfach eine Großmutter, sondern zwei verschiedene Frauen: Mormor ist die Mutter der Mutter und Farmor ist die Mutter des Vaters.
Es wundert also nicht, dass sich Snorri und seine erste Frau wie bei einer geschäftlichen Transaktion gütliche getrennt haben. Beide kamen aus den angesehensten Familien Islands.
Odin wird im Südgermanischen Wotan oder Wodan genannt; er gilt als ranghöchster Gott. Dargestellt wird er einäugig, weil er das andere Auge für die Allwissenheit gab. In der Hand trägt er die Blitze. Seine treuen Begleiter sind die Raben Hugin und Munin, sowie die Wölfe Geri und Freiki.
Hödur und Baldur sind Zwillinge des Gottes Odin und der Freya. Sie symbolisieren die beiden Seiten Odins: Licht und Schatten.
Loki veranlaßt den blinden Hödur, auf seinen Bruder mit einem Pfeil zu schießen. So wird Baldur, der lichte Gott, vom eigenen Bruder getötet. Nach Ragnarök versöhnen sich Baldur und Hödur miteinander und kehren einträchtig bei der Entstehung eines neuen Weltgebäudes in die Schöpfung zurück.
Auf den Geschmack gekommen? Dann geht es weiter im zweiten Teil:
Die Skalden und die nordischen Sagas 2. Teil – Ragnarök – die Götterdämmerung
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