Es begab sich vor nicht allzu langer Zeit. In einem wunderschönen Stall lebte ein kleines Lamm. Sein Name war Debitus. Er hatte ein dichtes flauschiges Fell und schöne traurige Augen. Die Tage, da er noch ein wenig wackelig auf den Beinen gewesen war, waren vorüber. Voller Stolz hatte Debitus erste Aufgaben von den Großen in der Herde übertragen bekommen.
Draußen auf den Weiden begann bereits der Frühling. Die Wiese wurde saftig grün, erste Blumen streckten zaghaft ihren Kopf. Die Hecke, die ihre Weide umgab und ihnen allen Schutz bot, begann zu wachsen und zu grünen. Die Vögel kehrten aus ihren Winterquartieren zurück und erfüllten die Luft mit ihrem Gesang.
Debitus tollte mit den anderen auf der Weide. Sie dachten sich allerlei Spiele aus. Fangen, Verstecken, Wettrennen aber auch Rätselraten. So vergingen die Tage wie im Fluge. Des Abends kehrten alle immer wieder in den Stall zurück, da die ersten Frühlingsnächte noch sehr kalt werden konnten. Von seinem Schlafplatz aus konnte Debitus beim Einschlafen immer einen Blick auf den Schatz der Herde werfen.
Ja, sie hatten einen Schatz. Er funkelte und glänzte, selbst bei dem kleinsten Lichtstrahl konnte man den Widerschein weithin sehen. Es waren viele kleine und große Glöckchen, deren Klang engelsgleich einen jeden verzaubern konnte. Es hatte sich auch schon herum gesprochen, dass sie so etwas Wertvolles besaßen. Die Hühner und die Kühe, die so manches Mal an ihrem Stall vorbei zogen, hatten gar neidische Blicke darauf geworfen. Debitus bekam, zusammen mit den anderen, eingeschärft: „Seid vorsichtig, dass kein anderer unserem Schatz zu nahe kommt.“ So waren alle auf der Hut und ließen keinen in ihren Stall.
Eines Tages dann, Debitus hatte wieder mit den anderen wie toll auf der Weide gespielt, konnte das kleine Lamm nicht einschlafen. Er lag lange wach und betrachtete die funkelnden Glöckchen. „Wie sehr würden mich die anderen beneiden, wenn ich nur eins der kleinen Glöckchen um meinen Hals tragen würde. Da hätten sicher auch die riesigen Kühe Respekt vor mir. Das wäre toll. Dann würden alle merken, wie groß ich schon bin.“
Debitus gefiel seine Idee immer besser, je länger er so in der Stille der Nacht da lag. Leise stand Debitus auf und schlich sich vorsichtig zu den Glöckchen und schaute sich um. Alle Anderen waren bereits am schlafen und so griff er nach dem kleinsten Glöckchen am Rande. Dann aber klingelte es leise und kristallklar. Er war sich sicher, dass nun alle aufwachen würden.
Verstohlen schaute er sich um. Nichts rührte sich. Eilends schlich sich Debitus in eine Ecke, wo es ein loses Brett gab, um dort das Glöckchen zu verstecken. Am nächsten Tag dann, alle waren bereits aufgestanden und auf der Weide, ging er zu dem Brett und holte das Glöckchen hervor. Heimlich schlich er sich um den Stall und die Hecke herum. Es kribbelte wie wild in seiner Magengegend.
Hoch erhobenen Hauptes präsentierte er das Glöckchen den anderen Tieren. „Schaut her, was ich Tolles besitze. Ich bin doch schon ein richtiges Schaf.“ Einige bewunderten ihn, andere warfen ihm neidische Blicke zu. Zuerst machte ihm das Ganze auch Spaß. Er tollte über die Wiesen und Felder jenseits der Hecke. Hier war er noch nie gewesen. Es war alles so weit und groß. Nach einiger Zeit aber, das kribbelnde Gefühl in seinem Magen hatte nicht verschwinden wollen, wurde Debitus ängstlich.
Was tat er nur, wenn ihm jemand das Glöckchen fort nahm? Dann fiel ihm ein: „Ob zuhause bereits jemand bemerkt hatte, das eines der Glöckchen fehlt? Sicher glauben sie, ein fremdes Tier hätte es gestohlen.“ Sein Magen zog sich nun noch mehr zusammen und er erkannte, dass es nie die Freude über das Glöckchen gewesen war. In seinem Innersten hatte er wohl von Anfang an gewusst, dass es Unrecht war, das Glöckchen zu stehlen. „Was mach ich nur? Soll ich mich heimlich rein schleichen und es an seinen Platz legen?“
So ging das kleine Lamm mit schweren Schritten Richtung Stall. Je weiter Debitus aber ging, umso mehr ließ ihm sein Gewissen keine Ruhe . „Wie kann ich mich nur wieder zurück trauen. Alle werden es mir ansehen, dass ich das Glöckchen gestohlen habe. Alle werden wissen, dass ich ein Dieb bin. “
Lange schlich er um den Stall herum. Ab und an wagte er einen Blick durch einen Spalt zwischen den Brettern. Drinnen schien alles friedlich zu sein. „Hat etwa keiner bemerkt, dass ich das Glöckchen gestohlen habe?“
Voller Schuldgefühle setzte er sich draußen in eine Ecke und weinte leise vor sich hin. Auf einmal kam Patruus heraus. Er stand ganz plötzlich vor Debitus. So kam es ihm zumindest vor, da er ihn nicht kommen gehört hatte. „Debitus, was sitzt du hier so alleine? Und warum hast du so dreckige Hufe? Hast du zuviel gearbeitet und bist im Schlamm versunken?“ Traurig sah Debitus ihm in die Augen. Nein, er konnte ihn nicht belügen. Und ehe er sich versah, hatte er ihm auch schon alles gebeichtet. Erst ganz zaghaft, aber dann sprudelte es nur so aus ihm heraus.
Ob ihn Patruus verstand, wusste er nicht. Er fand kaum die richtigen Worte. Tränen überströmt und mit gesenkte Kopf wartete er dann, was Patruus zu seinem Verrat, denn nichts anderes war dieser Diebstahl gewesen, sagen würde. Wie konnte er noch erwarten, weiter Schutz in der Gemeinschaft zu finden. Wie konnte er gar erwarten, dass die Freundschaft mit Patruus weiter bestehen konnte.
Nach einiger Zeit dann hörte er: „Das finde ich nicht gut, was du gemacht hast. Sag jetzt nur nicht, dass du das Glöckchen auch den anderen Tieren gezeigt hast.“ Beschämt gab Debitus auch dies zu. „Ich habe nicht darüber nachgedacht, in welche Gefahr ich unsere Gemeinschaft damit gebracht habe. Es tut mir leid.“ Einige Zeit herrschte nun Stille. Debitus kam es vor wie eine Ewigkeit. Als wäre die Zeit stehen geblieben.
Dann sprach Petruus ganz leise: „Bring es in Ordnung. Leg das Glöckchen zurück.“ Debitus sprang auf, schlich sich in den Stall, vorbei an den Anderen, die inzwischen schon schliefen, und legte das kleine Glöckchen zurück an seinen Platz. Mit klopfendem Herzen trat er nun wieder draußen vor Petruus. Erwartungsvoll sah er zu ihm hoch. „Was geschieht nun mit mir? Muss ich den Stall verlassen? Ich nehme jede Strafe auf mich, nur schickt mich nicht fort. Wo soll ich denn hin? Ohne euch alle bin ich nichts.“ Und wieder trat Stille ein.
Patruus schien nachzudenken. Sein Blick wanderte über die Weide in die Ferne. Nach einiger Zeit dann: „Du hast deinen Fehler eingesehen. Von mir aus muss es sonst kein anderer erfahren.“ Ungläubig schaute Debitus ihn an. Sollte wirklich nichts weiter geschehen? Er hatte doch eindeutig eine Strafe verdient. „Jetzt geh rein und schlaf gut.“ Immer noch verwirrt ging das kleine Lamm in den Stall und legte sich zu den anderen ins Stroh. Nur schlafen konnte er nicht recht. Heimlich weinte er die ganze Nacht. Die Tränen kullerten über sein Gesicht. Warum weinte er nur. Es war doch seine eigene Schuld gewesen. Er hatte doch das Glöckchen gestohlen.
Am nächsten Morgen dann stand er zusammen mit den Anderen auf und ging mit ihnen auf die Weide. Aber er war verändert. Er konnte immer noch nicht vergessen, was er am vergangenen Tag getan hatte. Und als ihn jemand ansprach was er denn habe, wurde ihm klar, dass man es ihm ansah. Es stand deutlich in seinem Gesicht geschrieben, dass irgendetwas nicht stimmte. „Och, es ist nichts. Ich bin nur nicht so lustig heut wie sonst. Ich weiß auch nicht.“ Wie konnte er ihnen das erklären? Nein, das konnte er nicht. Verstohlen schaute er sich nach Patruus um. War er immer noch böse auf ihn? Hatte er es etwa schon den anderen erzählt? Nein, es sah nicht so aus. Und als er ihm dann aufmunternd zunickte, versuchte Debitus nun doc,h ein wenig mit den anderen zu spielen.
Die Tage und Wochen vergingen und der Frühling war nun in voller Blüte. Alles duftete nach den Blumen, die nun alle ihre Knospen geöffnet hatten. Auch Debitus spielte nun wieder ausgelassen auf der Wiese mit den anderen Fangen. Es schien, als sei nie etwas geschehen. Aber wenn es Schlafenszeit war und er sein Haupt aufs Stroh legte, da konnte er immer die Glöckchen funkeln und glänzen sehen. Den Schatz. So manches Mal kam ihm dann in den Sinn, was er doch für ein Glück gehabt hatte. Und eine kleine Träne stahl sich aus seinen Augen.
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