Fürstenfehde – Brudermord

15. Juli 2012
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In der Heiligenvita Wladimirs I. werden ihm fünf Hauptfrauen und etliche Hundert Konkubinen nachgesagt, die er sämtlich vor seiner Taufe entläßt, um die purpurgeborene Kaisertochter und Kaiserschwester Anna von Byzanz heiraten zu können. Aus diesen Ehen stammen naturgemäß zahlreiche Kinder, vierzehn Söhne sind überliefert und sogar einige Töchter. Von Töchtern wird bis in die Neuzeit fast immer geschwiegen, es sei denn, sie werden zur Mutter eines Thronfolgers oder zur Äbtissin eines Reichsstiftes. Die Ehen werden geschlossen, um Bündnisse zu stiften und zu festigen – selten ist Zuneigung im Spiel. Von den Söhnen sterben drei bereits zu Lebzeiten des Vaters.

Wladimir I. war 977 als etwa Siebzehnjähriger zu Verwandten nach Schweden geflohen. Sie werden zur Sippe des Königs von Mittelschweden gehört haben, denn dort hat er bereits seine erste Frau geheiratet: Olava, Tochter Erik Segersälls. Als Wladimir etwa zwei Jahre später mit einem Waräger-Heer zurückkehrt und sowohl Polozk wie Nowgorod erobert, hat er vermutlich bereits einen Sohn – Wyscheslaw in der russischen Umlautung geheißen. Tatsächlich aber sind die Fürsten der Rus noch immer Skandinavier mit den entsprechenden nordischen Namen. Diesen Sohn bestimmt Wladimir I. zu seinem Nachfolger und überträgt ihm zunächst die Herrschaft über die reiche Handelsstadt Nowgorod. Wyscheslaw aber stirbt schon 1010 (noch vor dem Vater) im Alter von etwa dreißig Jahren und wird in Nowgorod beigesetzt. Vermutlich ist der Erstgeborene in diesem Alter politisch sinnvoll verheiratet und hat auch Nachkommen – aber da er verstirbt und seine Linie sich in der Rus nicht durchsetzen kann, ist das Wissen um Frau und Kinder verschollen. (Die Nestorchronik erklärt eine Tschechin zu seiner Mutter.)

Isjaslaw von Polozk, *~978 – 1001, anscheinend der nächstgeborene Sohn aus der Ehe mit Rogneda (oder aus der 1. Ehe Rognedas mit einem schwedischen Jarl), wird etwa 988 mit dem Erbe seiner Mutter abgefunden. Seine Nachkommen können keine Ansprüche aus dem Senioratsprinzip ableiten. Anspruch auf die Oberherrschaft in der Rus hat der älteste Sohn des verstorbenen Herrschers oder ein jüngerer Bruder – kein Enkel…

Nach der Eroberung Kiews und dem Tod seines Halbbruders Jaropolk I. im Jahre 980 nimmt Wladimir dessen griechische Frau zur Frau. Sie ist schwanger. Die namenlose Griechin soll als Kriegsbeute aus einem Kloster verschleppt worden und sehr schön gewesen sein. Wladimir hätte sie nicht heiraten “müssen” – es hätte in seiner Macht gestanden, auch sie töten zu lassen und alle Erbstreitigkeiten von vorn herein zu unterbinden. Doch er versorgt sie mit dieser Ehe standesgemäß. Den Sohn Swjatopolk, der bald nach dem gewaltsamen Tode seines leiblichen Vaters Jaropolk zur Welt kommt, zieht er wie einen eigenen Sohn auf und überträgt ihm 988 das Fürstentum Turow an der polnischen Grenze. Natürlich hat der achtjährige Knabe Berater und Erzieher. Zwischen 1009 und 1012 heiratet Swjatopolk die dritte Tochter Boleslaw Chrobry’s von Polen aus dessen dritter Ehe. Da die Ehe anscheinend kinderlos bleibt, ist nicht einmal der Name dieser Fürstentochter überliefert. Zunächst aber befördert der Ehestand bei Swjatopolk den Wunsch, sich aus der Unterwerfung unter den Vater zu befreien. Wladimir läßt ihn und seine junge Frau in Haft nehmen. Der polnische Schwiegervater Boleslaw versucht, ihm beizustehen, und führt einen Heerzug gegen Kiew. Dazu bekommt er sogar Unterstützung von Kaiser Heinrich II., doch der Versuch endet mit einer Niederlage.

Silberpfennig

Silberpfennig von Swjatopolk (Quelle: Wikipedia)

Nach Wladimirs I. Tod im Jahre 1015 beginnt Swjatopolk sofort, gegen seine Stiefbrüder vorzugehen. Boris, Fürst von Rostow und Lieblingssohn des Vaters, steht gerade im Feld gegen die Petschenegen, als Wladimir stirbt. Swjatopolk ist der Älteste, ihm steht die Sippenführung nach allgemeinem Dafürhalten zu. Er zieht nach Kiew und erkauft sich die Gunst der Krieger und Ältesten mit Geschenken. Mit List lockt er Boris und dessen jüngeren Burder Gleb (dieser ist erst fünfzehn), Fürst von Murom, in Hinterhalte und läßt sie ermorden – das ist Blutrache an den Söhnen des Mörders seines Vaters. Darum schweigen die Quellen komplett von Empörung und Widerstand im Machtbereich der Rus. Diese Blutrache ist sein gutes Recht und sie wird von den Fürsten des Landes ausgeführt.
Swjatoslaw, Fürst der Drewljanen, versucht, sich in die Karpaten zu retten. Auch ihm schickt Swjatopolk Mörder hinterher – nur Jaroslaw kann sich in Nowgorod halten, das sein Erbteil seit 988 ist. Er wird von seiner mit einem ungarischen Herzog verheirateten Schwester Premislawa gewarnt: “Dein Vater ist gestorben und Swjatopolk herrscht in Kiew, nachdem er Boris und Gleb getötet hat. Hüte dich!” Daraufhin zieht er ein Heer skandinavischer Krieger zusammen, auch der Unterstützung der Kaufmannschaft in Nowgorod kann Jaroslaw sich sicher sein. Auf Swjatopolks Seite steht dessen Schwiegervater Boleslaw Chrobry – und das herkömmliche Recht.
Im Sommer 1016 stehen sich die Heere der Brüder drei Monate lang bei Ljubetsch gegenüber, bis in der Entscheidungsschlacht Swjatopolk unterliegt und nach Polen zu seinem Schwiegervater flieht. Für das Jahr 1017 haben sich Jaroslaw und Kaiser Heinrich II. zu einem Zangenangriff gegen Boleslaw von Polen verabredet. Heinrich II. will – anders als Otto III. – keinen starken Staat an der Ostgrenze des Heiligen Römischen Reiches. Dennoch gibt Heinrich II. dem Polenfürsten nach dem Frieden von Bautzen ein Kontingent gegen Kiew mit und es gelingt Boleslaw 1018, Kiew zu erobern und Swjatopolk erneut als Großfürsten einzusetzen. Jaroslaw kann nach Nowgorod fliehen, aber seine weiblichen Verwandten und ein großer Goldschatz fallen in die Hände des polnischen Königs. Dieser fühlt sich für etwa einen Monat so sehr als Herr der Lage, daß er beginnt, sein Gefolge mit Lehen in “Rusland” zu beschenken. Doch Boleslaw hat die Einstellung der Rus falsch eingeschätzt. Die Kiewer greifen zum Dolch und machen nächtens die Einquartierung nieder, sodaß der polnische König binnen kurzem den Rückzug antritt.
Nach der zweiten Vertreibung aus Kiew im Anschluß an die Niederlage an der Alta 1019 flieht Swjatopolk erneut nach Westen und stirbt bald darauf – angeblich an Gewissensbissen wegen der ermordeten Brüder Boris und Gleb, vielleicht aber auch an Kriegsverletzungen, was wahrscheinlicher ist. Die Gefahr der Blutrache ist für Wladimirs Söhne abgewendet. Seither trägt Swjatopolk den Beinamen “Okayannij” – der Verfluchte.

Boris und Gleb

Boris und Gleb (Quelle: Wikipedia)

Derweile sitzt die polnische Großfürstin von Kiew, Boleslaws Tochter, immer noch in Festungshaft. Ihr Vater nimmt Kontakt zu Jaroslaw auf und bittet darum, er möge seine Tochter im Tausch gegen seine weiblichen Verwandten (Gemahlin, Stiefmutter Adelheid von Schwaben und Schwestern) frei lassen. Sehr lange kann Anna, Jaroslaws Frau, die Geiselhaft nicht überlebt haben – bereits 1019 geht der Großfürst eine neue Ehe ein, und da er orthodox getauft ist, kann er nicht gut zwei Ehefrauen gleichzeitig haben. Die überlebenden Brüder sind sämtlich jünger als Jaroslaw und daher keine Gefahr für ihn nach dem herkömmlichen Recht. Er beläßt ihnen die Fürstensitze, die der Vater ihnen zugewiesen hat, und kümmert sich als Sippenoberhaupt “väterlich” um alle Belange, die die Großfamilie betreffen.

© Amhara zu Agorá

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